Wie ich einmal sehr lange (drei Tage) auf eine Mail wartete, auf die ich so gar nicht warten konnte, und wie ich dieses Trauma verarbeitete, indem ich die Hyperfiction „die Schwimm-meisterin" erfand. Plötzlich hatte ich viel zu programmieren und zu schreiben und keine Zeit mehr, auf Mails zu warten.
Die Schwimmmeisterin ... oder „Literatur im Netz ist eine Zumutung"
... kolportierte die Neue Züricher Zeitung den Netzaktivisten Florian Cramer. Der bezog das einst auf Print-Literatur, welche ins Netz gestellt wird. Die NZZ bezog es auf die Netzliteratur. Gleichwie. Auch der NZZ kann ich voll zustimmen. Ja, Netzliteratur ist eine Zumutung. Ich kenne kaum eine Zumutung, die größer wäre, ausgenommen natürlich: das Netz selbst.
Ein Beispiel: Der Tag beginnt mit drei unverständlichen E-Mail-Botschaften. Zu 20 Prozent gelingt es, sie zu entschlüsseln und beantworten. Eigentlich würde ich lieber eine andere Mail beantworten, die aber leider noch gar nicht eingetroffen ist. Also erst mal zum Treffen im Chat, wo schwierige Projektdetails geklärt werden sollen. Computerabsturz verhindert Abschluss unserer Verhandlungen. Noch offene Fragen werden auf weitere Mails oder „Schaut auf meiner Website nach" vertagt. Leider ist dort der Server down. In der Zwischenzeit können weitere 70 Mails abgerufen werden. Diejenige, auf welche ich warte, ist nicht dabei. Also die neu empfohlenen Internetadressen prüfen ... wollen und nicht finden, die nächsten 20 Mails abrufen, die die Korrekturen der zuvor empfohlenen Internetadressen enthalten. Die inzwischen schon viel stärker erwartete Mail ist wieder nicht dabei. Auf der Homepage des Betreffenden nachschauen, ob es da einen Hinweis gibt. Am Telefon fragt eine, ob ich ihre Mail bekommen habe. „Moment, ich schau kurz." Weitere zehn Mails kommen auf den Bildschirm gesprungen. „Ja, deine ist dabei." Die schon! Und die andere? Später vielleicht. Draußen klappert der Postbote. Für mich hat er einen Brief, der eine ausgedruckte Mail enthält. „Liebe Frau Berkenheger, leider war Ihre Mailbox voll ..." Klar. Ich muss ja noch die Kopien in meiner fünften Sub-Mailbox löschen, rasch. Wie ging das nochmal? Die Online-Hilfe aufrufen. Aha, die haben relauncht. Neue Symbole! Hm. Weiter zum Index. Wenn „löschen" nicht unter „löschen" zu finden ist, wie könnte es noch heißen? „tilgen", „vernichten", „töten"??? Ah, da! Gefunden. „Säubern" heißt die Parole. Also jetzt sofort Säuberungsaktion ... starten ... und schon passiert. Zehn Minuten später trifft auch die erwartete Mail ein. Sie bouncte seit drei Tagen. Was für ein Gefühl! Auf Hochseefischfang gewesen und einen einzigen Hering heimgebracht.
Ja, der Netzalltag ist eine Zumutung!
Wer viel Netzalltag erlebt, dem scheint nicht selten die Zumutung, die die Netzliteratur darstellt, die Zumutung des Netzalltags zu reflektieren. Manchmal ist das gewollt, manchmal nicht. Der denkt: Ja genau, so ist es, das Leben im Netz - und er schaut in die Netzliteratur wie in einen Spiegel.
Erste Zumutung: der Monitor
Die Schwimmmeisterin, namensgebende Protagonistin der Geschichte, arbeitet in einem so genannten Erlebnisschwimmbad mit so genanntem Attraktionsbecken. Tolle Sache! Leute treiben dort an Sprudeldüsen und anderen Spezialeffekten vorbei und jauchzen, wenn sie auftauchen. Ein schöner Arbeitsplatz, so frisch, so feucht, so fröhlich. Das dachte die Schwimmmeisterin auch, bevor sie ihn das erste Mal sah: Ein finsterer Raum ohne Fenster mit Monitoren, die sie zu beobachten hat. In denen paddeln den ganzen Tag Leute ohne Kopf vorbei. (Sie treiben vom Hals an abwärts über den Schirm). „Passen Sie auf, dass keiner untergeht", sagte zur Begrüßung der Chef und verschwand für immer. Die Schwimmmeisterin blieb allein in der Geschichte zurück - mit einem öden Job am Hals.
Dem Praktikanten und Leser der Geschichte wird es kaum besser gehen. Schwimmbad, murmelt er und denkt an geblümte Bikinis, nasse Schenkel, frühe Sommersprossen ... ja. Er will sich gleich in die Fluten der Netzliteratur stürzen. Doch die Schwimmmeisterin fängt ihn schon an der Kasse ab: „Praktikanten kommen mit mir!" „Jawoll", sagt er halblaut und findet sich wieder in einem dunklen Raum vor einem Monitor. Ah, ist das öd. Vor einem Monitor sitzen? So hat er sich die Netzliteratur nicht vorgestellt. „Ja, glauben Sie etwa ich?", entgegnet die Schwimmmeisterin und: „Los jetzt! Klicken! Damit wir weiterkommen." „Ach", sagt der Praktikant und streicht mit dem Cursor über den Nacken der Schwimmmeisterin.
Zweite Zumutung: die Maus
Da passiert etwas. Aha! Der Bösewicht taucht auf. „Ha! Her mit dir, Gegenspieler", ruft der Praktikant aus und will mit großer Geste den Pfeil seines Cursors zücken. In kühnem Einsatz würde er damit den Dämon durchbohren, er würde die Schwimmmeisterin retten und ihr Herz gewinnen. Das Netz würden widerhallen vom Ruhm des Praktikanten. Ja! Und klick! Klickklick! Der Praktikant schaudert. Klickklickklickklick. Der Praktikant ist genervt, dann erschreckt, oder hilflos, äh, frustriert? - er kann selbst nicht sagen, was, nur eins: Er hat die Gewalt über seinen Computer verloren. Der Cursor reagiert nicht mehr auf seine Zuckungen. Ist das demütigend! Die eigene Machtlosigkeit schwer zu ertragen. So hat er sich die Netzliteratur nicht vorgestellt. „Ich schon!", entgegnet die Schwimmmeisterin und schäkert mit dem Virus Hai75, der alles kontrollierend über den Bildschirm springt. Den Praktikanten hat sie schon fast vergessen.
Dritte Zumutung: klicken
Der Praktikant will aber nicht vergessen werden. Nicht von der Netzliteratur. So hat er sich die nämlich nicht vorgestellt. Die Schwimmmeisterin schweigt, schäkert weiter mit dem Monitor. Der Praktikant will etwas. Die Netzliteratur soll den Praktikanten anschauen. Und zwar sofort! Sie soll ihn zu spüren bekommen, die Netzliteratur. Er könnte zum Beispiel den Computer ausschalten. Das wäre krass, eine spektakuläre Aktion. Ja! Jaja! Nur, wer jubelt ihm dann zu? Und wollte er nicht den Virus aufjaulen sehen, die Schwimmmeisterin retten und ihr Herz gewinnen? Während er über seine Möglichkeiten sinnt, verpasst er die eine, die er hat. „Bist du bereit?", wird er auf dem Monitor gefragt. Schon, aber wozu? Während er noch verwirrt der Frage hinterherdenkt, spießt er aus Versehen mit einer Harpune die Schwimmmeisterin auf. Oje. Das wollte er nicht. Er schwört, von einer Harpune in seiner Hand habe er nichts gewusst. Er sei unschuldig. Die sterbende Schwimmmeisterin sieht das nicht ganz so. Immerhin ist jeder 20. Praktikant so schnell, so vif, so glücklich (oder nach mehreren Anläufen auch so geübt), dass er die Schwimmmeisterin rettet und stattdessen eine andere Person der Geschichte aufspießt. Tolle Sache. Für die Netzliteratur. Denn dadurch geht sie noch ein Stückchen weiter.
Vierte Zumutung: wiederholen
Harte Sache für die Schwimmmeisterin und ihren Praktikanten. Sie trauernd, er schuldgeplagt, kreisen die beiden in einer traumatischen Erlebnis-Wiederholungsschleife, wo sie doch nichts ungeschehen machen können. Wo nur die Löcher (im Text) immer tiefer werden und die Leiche zu Füßen des Praktikanten immer kälter wird. Die Frage ist, wen zermürbt es wohl zuletzt. Wer weiß, ob durchhalten überhaupt lohnt, ob irgendwas noch folgt. „Es lohnt, es lohnt," murmelt die Schwimmmeisterin. Aber: Ob irgendein Praktikant das je erfahren wird? „Komm mit schwimmen", schlägt die Schwimmmeisterin vor. Der Praktikant will sich gleich das Hemd runterreißen und ... doch halt, vorher: Geheimnis lösen! Codewort raten! Es spritzt ein wenig. Die Schwimmmeisterin lächelt. Der Virus ruft: Schau halt auf die Übersichtskarte! Die aber dürfte nichts anderes als die ...
Fünfte Zumutung: überwacht werden
... sein. Überzeugen Sie sich selbst auf http://www.schwimmmeisterin.de. Gehen Sie auf Hochseefischfang und fangen Sie einen Hering.
Kleingedrucktes
Das wär’s auch schon gewesen, gäbe es da nicht noch eine weitere, winzige Zumutung, kaum der Rede wert, denn die erleben nur jene wenigen Praktikanten, die nicht mit PC und Internet Explorer surfen, die eine andere Auflösung als 1024 mal 768 Pixel eingestellt haben, und jene Paniker, die ihre Cookies deaktiviert haben. Wer ist das schon? Okay. Ich kenne Menschen, die haben einen Mac und die gehen damit ins Internet. Es sind meist stolze Naturen. Zu Recht. Sie sollten jubilieren und ihrem Sicherheitsdienst gratulieren. Der würde nämlich die Schwimmmeisterin binnen Sekunden in Handschellen abführen anstatt brav ihre Befehle auszuführen. Auch Netscape, der Browser, und seine Kollegen, Opera und Konsorten, sind sture Böcke und lassen die Schwimmmeisterin allenfalls gefesselt und mit verbundenen Augen ins Bad. Das wiederum behagt der gar nicht. Denn die Schwimmmeisterin ist autoritär, sektiererisch und monopolistisch zugleich. Genau wie mitunter das Netz selbst.
Susanne Berkenheger, Oktober 2002